von Volwo » Samstag 17. Januar 2009, 22:04
Im Jahre 2004 meldete sich der mittlerweile verstorbene
Zygmunt Holcer aus Kraków, Polen auf meine "98 Fragen"
und ließ mir durch seinen Übersetzer folgenden Brief schreiben (tlws. von KPS korrigiert, ergänzt) :
Am 06.11.1944 (Montag 19:20Uhr) bin ich im Außenkommando OHRDRUF (Außenlager S III) angekommen.
Dort bekam ich Häftlingsnummer 103693.
Ich wurde im Block 2 (besser Baracke) der Stube 9 zugeteilt.
Am Dienstag (also am 07. November 1944) kam ich im Nordlager in den Block 18 (St. 14), Block 10 (St. 6?), Block 19 (St. 12), Block 4 (St. 10), Block 3 (St. 2) und endlich in Block 18 und wurde als Schreiber eingesetzt.
Am 07. November 1944: der erste Schnee in Ohrdruf.
Am 16. Dezember 1944: Samstag bin ich nach Block 10 zum Stubendienst und nachher in den Block 6 (St. 6) überstellt worden.
Am 01. Januar 1945: Es wird in Ohrdruf gehängt.
Am 11. Januar 1945: Block 10 wird aufgelöst, ich komme nach Block 19 – Kommando „Wasserturm“ Ohrdruf, „Gleis. Abl. Bhf. Ohrdruf“.
Am 23. Januar 1945: Es wird in Ohrdruf gehängt. Ich kam ins Revier, Block 4 (St. 10).
Am 24. Januar 1945: Es wird wegen Bestrafung kein Brot ausgegeben.
Seit 05. Februar 1945 hören wir die Artilleriegeschosse den ganzen Tag hindurch.
Am 06. Februar 1945: Ohrdruf und Arnstadt werden bombardiert.
Inzwischen wurden die Wachttürme des Lagers von „Jabos“ beschossen, (als „Jabos“ bezeichnet man die amerikanischen Jagdbomber vom Typ Curtiss P40).
Am 02. (?) April 1945: Die „Jabos“ zerstören ein Zug mit dem Nachschub der Kriegsfront. Es war ein Zug, der aus den unterirdischen Stollen ausfahren sollte.
Er wurde aber dreimal mit Bomben getroffen und ist nachher stehen geblieben (das alles haben wir durch unsere Fenster im Nordlager gesehen).
Am 03. April 1945: Von Mittag bis 18:40 Uhr wird das Nordlager evakuiert. Ich gehe mit der letzten Kolonne (die war nur von den ehemaligen Auschwitzern belegt).
Der Lagerkommandant hatte uns zum Abschied gesagt: „Ich gebe euch nur vier Bewacher, aber lauft nicht weg, weil der ganze Evakuierungsweg ist von Wehrwolf und bewaffneten, alten Männern bewacht“.
Die Wahrheit seiner Worte hatten wir schon nach ein paar hundert Metern festgestellt. Es liefen vier Leute von unserer Kolonne weg und bald hatten wir ein paar Schüsse gehört.
In der Nacht, während des Marsches, beobachteten wir den Brand des Nordlagers und die Panzergeschosse über dem Hügel des Lagers.
Morgens, am 04. April 1945, kamen wir über Arnstadt bis Stadtilm und beobachteten den Rückzug der deutschen Armee.
Auf ungefähr halben Weg zwischen den beiden Städten wurden 3 Züge, in einer Entfernung von 100 Meter von uns, am Bahnhof durch „Jabos“ in Brand gesetzt. Übernachtung.
Der Weitermarsch erfolgte am 05. April 1945 Richtung Bayern. Sundremda (bei Saalfeld/Rudolstadt): 4 Häftlinge wurden erschossen. Amerikanische Flugzeuge beobachten uns.
Es gelang uns, den Bewachern zu erklären, dass wenn wir nach Süden gehen würden, dort die Amerikaner treffen und sagen könnten, dass sie uns hier hin mitgebracht haben – so könnten sie gerettet werden.
Es schien, dass die Bewacher auf unseren Vorschlag eingingen. Also haben wir uns bei der nächsten Strohhütte endlich schlafen gelegt.
Aber gegen Morgen haben uns die Bewacher mit Kolbenstößen und mit den Worten geweckt: „…und was passiert mit uns, wenn die Deutschen den Krieg gewinnen?“.
So schickten uns die Bewacher nach Buchenwald zurück. Dann kamen wir nach Remda und wir gingen wieder auf dem „richtigen Weg“ nach Weimar (30 km). Übernachtung.
Am 06. April 1945 erfolgte der Weitermarsch nach Weimar und Buchenwald.
Am 07. April 1945 übernachteten wir bereits in Buchenwald. Am 08. April 1945 erfolgte um 07:00Uhr morgens die Abfahrt mit einem Transportzug (Strecke: Chemnitz – Leipzig Dresden).
Um 21:00Uhr stiegen wir in Leitmeritz (in Sudeten, heutigen Czechische Republik) aus.“
Anbei geben wir nun noch alle Antworten von Herrn Holcer auf die Fragen wieder, die er uns freundlicherweise zur Verfügung stellte.
17. Wann wurde mit dem Stollenbau im Jonastal begonnen und wann wurden die Arbeiten beendet?
…Aussage Chef Führungsstab S III: SS-Hauptsturmführer Gerit Oldeboershuis -> Beginn des Häftlingseinsatzes ab dem 10.11.1944 bis April 1945
Anfang April 1945 – Keine Bautätigkeiten etc. mehr Tal erkennbar. Die Todesmärsche der Häftlinge waren im vollen Gange. In dieser Zeit wurden bereits die Stollen zum Schutz durch Gossler und Crawinkler aufgesucht.
Zu Frage 1: Also kann ich feststellen, dass ich als Häftling nach S III am 06.11.1944 kam (nicht am 10.11.1944). Ich bin dort, und nicht nur ich, bis zur Mitternacht am 02./ 03. April 1945 gewesen, also bis zu der Zeit, als wir schon die Panzerkanonenschüsse vom Gipfel des Nordlagers aus sehen konnten.
12. Gab es Sprengungen/ Tarnmaßnahmen vor Einmarsch der Amerikaner?
Zu Frage 12: Ich habe keine Sprengungen vor dem Einmarsch der Amerikaner gehört.
14. Wer waren die Auftraggeber für S III?
Zu Frage 14: Von Anfang an habe ich die SS Mannschaft gesehen.
Ab April oder Mai
habe ich dort die abgestellten (Reservisten) Wehrmachtsangehörige (auch aus Fliegerkorps) gesehen. Zwischen diesen war ein ehemaliger SS Gruppenführer gewesen, der nach seiner heroischen Aussage, für die Erschießungen von einem Transport aus Schlesien verantwortlich war.
Er wurde von einem Sondergericht zum Tod verurteilt, aber auf die persönliche Intervention von Himmler, weil er – wie man damals sagte – sein Bekannter oder Verwandter war, am Leben gelassen – aber dafür degradiert.
Als so genannter „Eiserner Unteroffizier“ ist er im April oder Mai in OHRDRUF als Lagerkommandant eingetroffen.
Nachdem er von einigen ehemaligen Auschwitzern erkannt wurde und Sie ihn als Gruppenführer ansprachen, fragte er: „Woher kennen Sie mich?“ „Von Auschwitz Herr Rapportführer!“ lautete die Antwort.
Hier muss man sagen, dass über die Verhaftung und das Todesurteil für Herrn Stiebitz (oder Stibitz – so oder ähnlich sollte sein Name lauten), hatte sich Himmler erkundigt über die Untergrundorganisation in Auschwitz (von Stiebitz selbst geschriebener Nachricht – „Grips“).
45. Wie viele Häftlinge und Arbeiter wurden auf der Jonastal-Baustelle eingesetzt?
Zu Frage 45: Das kann ich nicht wissen. Ich erinnere mich nur, dass es sehr viele waren, die dort tätig waren. Es war damals sehr unbequemes Wetter gewesen. Und es war fast egal, ob man drinnen oder außen gearbeitet hatte. Es war sowieso gefährlich, nicht nur aus den geologischen Gründen.
46. Wie viele Menschen sind zum Opfer des Vorhabens S III geworden?
Zu Frage 46: Wie die Antwort aus der Frage 45. Wie ich mich jetzt erinnern kann, sind viele Leute mit meinem Transport gekommen. Bis zur Evakuierung sind nur ein paar Gruppen geblieben. Als ich im Jahre 1970 (?) im Auschwitzer Museum eine Bescheinigung bekam, hat man mir dort gesagt, dass ich der Einzige bin, der von Ohrdruf kam/ überlebte. Natürlich bedeutet dies nicht, dass ich wirklich der Einzige bin.
47. Was ist über die zusätzlichen Opfer des Todesmarsches im April 1945 bekannt? Welche Routen wurden mit welchem Ziel eingeschlagen?
Zu Frage 47: …habe ich schon oben geschrieben.
48. Wie viele entkräftete Häftlinge wurden über Transporte von S III aus auf die letzte Fahrt geschickt? In welchen Lagern kamen die arbeitsunfähigen Häftlinge an?
Zu Frage 48: Auf diese Frage kann man jetzt keine vernünftige Antwort geben. Man sollte darüber den Heiligen Petrus fragen.
49. Wofür wurden mehr als 10.000 Häftlinge benötigt, wenn eigentlich 1000 Häftlinge für den Vortrieb der bekannten Stollen gereicht hätten?
Zu Frage 49: Es ist für mich nicht klar, ob es 10.000 waren. Ich kann nur sagen, dass mit mir ungefähr 700 Häftlinge angekommen sind. Der Lagerbestand war trotz der Unfälle und Todesfälle immer fast gleich.
50. Bei welchen Arbeiten wurden Häftlinge in der Umgebung beobachtet?
Zu Frage 50: Meines Wissens nach haben die Meisten beim Stollenbau gearbeitet. Sehr viele (ich meine, es können viele Hunderte gewesen sein – wegen der Geologie des Berges) sind dort ums Leben gekommen. Die Meisten sind dort geblieben. Ich war zum Beispiel mal mit dem Gleisbau beschäftigt. Wie ich mich jetzt erinnern kann, war dies zwischen Ohrdruf–Hauptbahnhof (?) und den Stollen. Ohne Rücksicht wurde im Herbst, Winter oder Frühling gearbeitet, was damals sehr unangenehm war. An einem Tag gab es Schnee, Regen, Wind und dazu ganz niedrige Temperaturen. Und wir hatten nur dünne, aus Holzwolle produzierte Kleider zum anziehen, welche schnell durch und durch nass waren. Man fühlte, wie auf dem Rücken Tropfen oder wirkliche Regenströmen flossen und dazu waren wir schon seit Jahren durchweg hungrig.
51. Wie sahen die Überlebenschancen aus und wie wurden die Arbeits- und Lebensbedingungen beschrieben?
Zu Frage 51: Die Chancen waren sehr begrenzt. Es gab tatsächlich sehr wenige Chancen, um mit dem Leben davon zu kommen. Man musste hauptsächlich sehr viel Glück haben und dazu oder vor allem eine eiserne Gesundheit, ebenso physische wie auch psychische Widerstandsfähigkeit.
52. Wurden die Häftlinge wirklich jeden Tag von Ohrdruf, Crawinkel und Espenfeld ins Jonastal gebracht und kamen diese abends wieder auf dem gleichen Weg zurück?
Zu Frage 52: Ich kann nichts über Andere sagen, aber ich bin wirklich jeden Tag vom Nordlager Ohrdruf nach unten in die Stadt gegangen, um den Arbeitsplatz zu erreichen und abends auf dem gleichen Weg ins Nordlager zurück.
56. Warum gibt es so wenige Aussagen von ehemaligen Häftlingen bzw. wo gibt es weitere Hinweise /Dokumente?
Zu Frage 56: Meiner Meinung nach gibt es sehr wenige Leute, die sich für diese Episode aus dem zweiten Weltkriege interessierten. Ein Beispiel bin ich. Es war ein Zufall, dass ich von meinen Kamerad Przemek, der in Internet Eure Fragen gefunden hatte und dass er von mir wusste, dass ich etwas mit Ohrdruf zu tun hatte. Er hatte mich dann darüber informiert. Jetzt werde ich ihn beschäftigen, um nicht nur die Antwort zu senden, sondern auch die Korrektur meines schon sehr schwachen Deutsch zu machen.
74. Waren die Amerikaner bereits vor dem 12.04.1945 im Jonastal?
Zu Frage 74: Es kann sein, das die amerikanische Truppen schon vor dem 12.04.1945 im Jonastal waren. Wie ich bereits schon geschrieben hatte, haben wir Mitternacht vom 03. zum 04. April Feuer aus Panzerkanonen vom Hügel des Nordlagers gesehen. Eigentlich weiß ich erst jetzt, wo das Jonastal liegt und darum ist es für mich möglich festzustellen, wann die Amerikaner in Jonastal ankamen. Die angegebene Daten 04.04.1945 mit meiner Korrektur sollte nur für Nordlager Ohrdruf (S III) stimmen. Das Datum 05.04.1945, als die „Offizielle Einnahme von Ohrdruf und des Truppenübungsplatzes kann stimmen, weil dieses gut mit meinen Notizen korrespondiert.
Zygmunt Holcer, Kraków, Polen
02. April 2004